20. November 2013

Anatomische Wunder und krisensichere Berufe. Oder: Was man aus Fehlzeiten-Begründungen lernen kann.

Anatomische Wunder und krisensichere Berufe. Oder: Was man aus Fehlzeiten-Begründungen lernen kann.

Anatomische Wunder und krisensichere Berufe. Oder: Was man aus Fehlzeiten-Begründungen lernen kann.

Von Bettina Conradi

Der Beruf des Gas- und Wasserinstallateurs ist krisensicher wie kein zweiter und: Anatomische Wunder gibt es offenbar in meiner direkten Umgebung!

Woher ich das weiß? Die Fehlzeiten-Zettel, die meine Kollegen und ich regelmäßig durchsehen und auf Entschuldbarkeit des Fehlens hin prüfen müssen, enthalten Begründungen, die das nahelegen. Ein männlicher Schüler, der seine Menstruationsbeschwerden als Grund für sein Fehlen angibt, kann doch nur ein solches anatomisches Wunder sein. Oder etwa nicht? Und zu den Berufsaussichten: Kaum eine Woche vergeht, in der nicht mindestens einer unserer Teilnehmer von einem Wasserrohrbruch oder einer ausgelaufenen Waschmaschine betroffen ist. (Wenn mein Neffe bald mit der Schule fertig ist, werde ich den Beruf des Gas- und Wasserinstallateurs noch einmal ernsthaft ins Gespräch bringen, glaube ich.)


Auch die Angestellten der Stadtwerke haben durchgehend zu tun. Mit Stromablesen. Dafür muss man als Verbraucher natürlich zuhause sein. – Bei meinen Kollegen und mir klappt das auch mit einem Zettel an der Wohnungstür oder online. Aber das ist noch nicht in allen Haushalten so geregelt…

Schlüsseldienste scheinen ebenfalls eine krisensichere Branche, denn nächtliches Aussperren mit Wartezeit auf den rettenden Dienst und anschließend unabdingbarem Ausschlafen (sonst: Kopfschmerzen!), findet sich auch häufig bei den genannten Begründungen. Ein Glück, sollte man jetzt denken, wenn man nur aus- und nicht eingesperrt ist, denn auch Letzteres hielt schon den einen oder anderen vom Unterricht fern. Versehentlich (Automtatismus des Abschließenden!) eingeschlossen vom Partner (mit wichtigem Job weit außerhalb versteht sich), muss schon mal ein kompletter Schultag in der Wohnung verbracht werden. Schließlich gibt es ja in der Regel nur einen einzigen Wohnungsschlüssel pro Haushalt. Und wer würde schon verlangen, dass jemand sich in Lebensgefahr begibt und aus dem vierten Stock mit zusammengeknoteten Bettlaken abseilt, nur um in die Schule zu kommen?

Wenn man es selbst nicht schafft, aus- oder eingesperrt zu werden, dann können auch andere Personen dafür sorgen, dass man trotzdem einen wichtigen Grund hat, dem Unterricht fernzubleiben: Mitbewohner schließen sich aus und rufen schließlich schlotternd oder nassgeregnet an, damit man ihnen zur Hilfe eilt und die Tür öffnet – statt selbst den Weg quer durch die Stadt anzutreten. Für beflissene Mitbewohner ein zwingender Grund, dem Unterricht wieder zu entrinnen. Immerhin ist man in diesem Fall schon in der Schule gewesen.

Es gibt nämlich vielfältige Möglichkeiten, da gar nicht erst anzukommen: ›Schulsachen vergessen‹ zum Beispiel. Ich stelle mir das so vor: Ich verlasse das Haus, um in die Schule zu gehen und stelle nach langer S-Bahn-Fahrt kurz vor dem Ziel fest, dass ich meine Tasche vergessen habe. Mist! Selbstverständlich muss ich jetzt wieder umkehren. Meinen Sitznachbarn für diesen Tag nach einem Blatt Papier und einem Kugelschreiber zu fragen, ist definitiv ausgeschlossen. In diesem Fall liegt der Grund in der eigenen Vergesslichkeit, was im Zettelberg der Lehrer doch eher selten zu lesen ist bei den Fehlzeit-Begründungen.

Weitaus häufiger ist es die unzuverlässige, störrische, unter permanenten Verzögerungen-im-Betriebsablauf leidende S-Bahn. Ein Gutes hat das inzwischen bewirkt: Die  BVG hat grundsätzlich umstrukturiert und ihre Bahnen weitaus besser im Griff, seitdem sich an der Schule herumgesprochen hat, dass Fehlen aufgrund von S-Bahn-Unzuverlässigkeit nur dann entschuldigt werden kann, wenn ein entsprechendes Schreiben von der Bahn-Info vorgelegt wird.

Wenn man sich denn überhaupt in die S-Bahn wagen will: Es gibt Zeitgenossen – das alles verraten Fehlzeiten-Entschuldigungsschreiben – die aus PRINZIP nicht einen Fuß in die öffentlichen Verkehrsmittel setzen. Wenn dann das Fahrrad einen Platten hat oder der Regen zum Radeln zu stark ist, wird der Schulbesuch zur Unmöglichkeit. Man muss eben Prioritäten setzen.

Das alles sind äußere Hindernisse, einige vielleicht auch die der so genannten ›höheren Gewalt‹. Die existenziellen und die familiären sind oftmals ein trauriger Grund, den in Frage zu stellen grundsätzlich unangemessen erscheint. – Wenn dann aber mehr als eine Handvoll gleichartiger Verwandtschaft (bevorzugt: Omas und Opas) EINES Schülers innerhalb kürzester Zeit ableben, dann macht das doch misstrauisch und weckt den Verdacht, dass es Leute gibt, die bereit sind, ihre gesamte Familie (hypothetisch) über die Klinge springen zu lassen, nur um ein wenig mehr Freizeit zu bekommen. Ähnlich ist es mit Fällen des Ablebens der manchmal einzig wahren treuen Gefährten wie Hunden, Katzen, Nymphensittichen, Kanarienvögeln, Hamstern und Wüstenrennmäusen und Goldfischen…

Interessant zu lesen sind auch die bisweilen kryptischen Ein- bis Dreiwort-Entschuldigungen, die den eigentlichen Grund des Fehlens nur verschlüsselt angeben: ›Termin‹ steht dann dort in der Begründungszeile oder ›Körper‹. Auch: ›Kinder‹ oder ›Unter – Schmerzen – Leib‹. Manchmal auch ein schlichtes ›Urlaub‹ oder ›Bin weg‹.

Auch wenn ich oft ein ›UE‹ für ›unentschuldigt‹ eintragen muss ist mir das alles nicht ganz unbekannt und entlockt mir so manches Schmunzeln: In meiner Schulzeit habe ich mich einmal mit der Begründung ›akute Epidermis‹ selbst vom Unterricht freigestellt. Mit meiner besten Freundin eM gab es Wichtiges zu besprechen. Ab 18 durften wir Entschuldigungen nämlich selbst schreiben und haben von dieser neuen Freiheit gern und exzessiv Gebrauch gemacht. ›Akute Epidermis‹ fanden wir damals als Entschuldigung unglaublich witzig. Der Unterrichtsstoff aus dem Bio-Unterricht hatte damit sozusagen direkt Eingang gefunden in unser praktisches Wissen und war uns (ganz anders als ein Großteil der Unterrichtsinhalte) NÜTZLICH. Unsere Lehrer hielten wir damals für dämlich und uns für seeeehhhhr erwachsen. Schon komisch, wenn man dann Jahre später auf der anderen Seite sitzt und solche Zettel abzeichnet…